Chilly Gonzales und das BBC Symphony Orchestra

Das Klavier ist wieder massentauglich geworden. Und das hat der schwarz-weiße Riese vor allem einem zu verdanken: Chilly Gonzales. Sein Rezept dabei lautet: Modifizierung und Adaptierung. Statt Klassik zu verpoppen und dem Zuhörer einen ungenießbaren, schmalzigen Pomp-Eintopf aufzutischen, nutzt er die Regeln klassischer Komposition und erschafft Klavierkleinode in Popsonglänge und -aufbau. Statt sich abzugrenzen, durchbricht er ständig neue Schranken und paart das Piano mit schillernden Stilrichtungen. Statt sich autistisch-verinnerlicht hinter dem Klavier zu verstecken oder den Lackschuh des Künstlersnobs anzuziehen, schlüpft er in grüne Schlappen und Satin-Bademantel, um dem Publikum Intimität sowie Augenhöhe zu suggerieren. Wie kaum ein anderer verkörpert er musikalisches Genie und Publikumsverehrung zugleich, ohne dabei populistisch oder anbiedernd zu sein.
Die Zuschauer sind für ihn keine gesichtslose Masse, welche selbstvergessenem Musizieren leise beiwohnen darf, sondern das Publikum bestimmt sein Denken, Handeln, Spiel. Es ist wohl zu einem Großteil dieser Respekt vor den Menschen, die wiederum ihn respektieren, bewundern, als Inspiration betrachten, der ihm deren Treue sichert, auch wenn das nächste Projekt eine ganz andere Richtung einschlägt. Und dementsprechend finden sich im Publikum Wegbegleiter und Fans aller Schaffensphasen. T-Shirt sitzt neben Sakko, Oversized-Wollpulli neben Spitzenkostüm. Wer denkt, beim Auftritt mit dem BBC Symphony Orchestra in der Londoner Barbican Hall folge die Rolle rückwärts zu steifer Tradition, irrt. Tatsächlich befindet sich Chilly Gonzales schon auf seiner logisch konsequenten und neuesten Mission, die vor einem Jahr im Wien mit dem Radiosinfonieorchester (RSO) begonnen hat: nach dem Klavier auch die Orchester von Muff und Elitarismus zu befreien. Hierfür hätte er keinen besseren Mitstreiter als Jules Buckley finden können. Der aufstrebende Dirigent ist ebenfalls ein Vertreter einer Avant-Garde, welche das Orchester von der Diktatur vergangener Jahrhunderte befreien möchte. Notfalls durch indem man dem per se willenlosen Apparat neuzeitliches auf die Notenständer stellt und dadurch versklavt.
Als teuersten Synthesizer der Welt hat Chilly Gonzales das Orchester im Vorfeld bezeichnet. Und tatsächlich strahlt er über das ganze Gesicht, als das Mensch gewordene Spielzeug seiner Teenager-Jahre bei „Supervillain Music“ voll aufdreht – „Habsburg style“. Über den walzernden 6/8 Takt rappt Chilly Gonzales sich punktgenau die Seele aus dem Leib. So mancher silberhaarige Konzertbesucher reibt sich die soeben noch geschlossenen Augen und der ein oder andere wird sogar zum Kopfnicker. Angefangen hatte der Abend nämlich mit drei seiner ohrwurmigsten Stücke aus dem just erschienen Sequel „Solo Piano II“ – und gemäß dem Titel ohne Tamtam: ein Mann, ein Flügel. Kenaston, benannt nach der Straße in Montreal, in welcher Chilly Gonzales aufgewachsen ist, perlt direkt vom Ohr ins Herz und lässt auf eine extrem glückliche Kindheit schließen – inklusive der Wehmut, welche viele Erwachsene beim Rückblick umflort. Nahezu nahtlos schließt Othello an, ein Stück, das seit mindestens 2009 in Chilly Gonzales Kopf existiert. Vielleicht ist es gar auf der Weltrekordbühne (Gonzales hat mit über 27 Stunden den Rekord des längsten Konzert eines Solokünstlers gebrochen) geboren worden, als Gonzales sich nach mehreren Stunden dort die Haare schneiden und eine klassische Rasur verpassen lässt – zu den Klängen von einem traumwandlerischen Othello. Wilder die Version in der Barbican Hall. Da wird schon mal die Abdeckungsklappe des Flügels zum Rhythmusinstrument umgedeutet. Und wer allzu literarisch denkt, irrt. Kein shakespearsches Motiv hat den Klaviervisionär inspiriert, nein, das Stakkato-Stück ist nach dem Steeldrummer Othello Molineaux benannt.
Zum barock angehauchten Evolving Doors schließlich tritt das Orchester auf und das Publikum sorgt mit Getuschel und Bewegung dafür, dass der Einkaufspassagendrehtüreffekt tatsächlich einsetzt. Spätestens hier wird die Verschmelzung von Tradition und Moderne sicht-, zugleich das Wagnis spürbar. Dass am Ende des Abends der Enthusiasmus des nicht mehr ganz jungen Paukenspielers selbst dem Bühnenbiest/-berserker Chilly Gonzales zu bunt wird und er ihn zur Mäßigung mahnt, lässt sich beim Einlauf des ehrwürdigen Ensembles noch nicht erahnen. Auch nicht, dass die Blechbläser einen ganzen Song über lediglich winken werden, während Chilly Gonzales sich vom Publikum über die Ränge der Barbican Hall hinwegtragen lässt.
Doch zunächst stiehlt nach „Supervillain Music“ und dem Rache-Rap „The Grudge“ die kleine Jeevan Chilly Gonzales für einige Minuten die Show und improvisiert neben dem Meister uneingeschüchtert und mit viel Rhythmusgefühl abwechselnd auf den weißen und schwarzen Tasten. Die bezaubernde Jeevan ist vielleicht auch der Grund, weshalb Chilly Gonzales die nicht jugendfreien Stellen in „The Grudge“ einfach weglässt. Begonnen hatte die Unterrichtseinheit mit einem selbstironischen Seitenhieb auf seinen minimalischen Dreinotensong „Never Stop“ aus der iPad-Werbung. Dieser sei in einem misanthropischen Moment entstanden. Da er aber das Steve Jobs-Gütesiegel erhalten habe, sei es nicht an ihm zu urteilen. Sequenzen wie diese und auch jene, die er seiner Lieblingstonart Moll widmet, indem er bekannte Melodien transponiert, sind nicht neu. Durch seinen Wortwitz und Charme ist der kleine musiktheoretische Ausflug allerdings auch dieses Mal so unterhaltsam, wie Musikstunden früher nie waren.
Das alles war allerdings nur das Vorspiel. Das Vorspiel zur Weltpremiere von Chilly Gonzales erstem Klavierkonzert in vier Sätzen. Und wenn zwischen den Sätzen das einzige Zeichen menschlicher Regung bislang das Husten war, fordert der Komponist sogar zu Beifallsbekundungen auf, sobald die Musik schweigt. Und die fallen nach dem ersten Satz heftig aus. Wer sich schon immer gefragt hat, wie sich der Maximallevel musikalisch erfahrbarer Emotionen anfühlt, der bekam die Antwort an diesem Abend, so epochal, bombastisch und dramatisch beginnt das Piano Concerto No. 1, insgesamt ein beeindruckendes Werk, welches stellenweise an den Soundtrack zu einem guten Film erinnert. Im Verlauf wechseln sich Passagen ab, bei denen das Piano führt, das Orchester übernimmt oder das Piano mit einzelnen Instrumentengruppen flirtet. Zusammen- und Wechselspiel zeugen von der Harmonie zwischen Orchester und Solisten. Getragen wird das Concerto von Varianten einer ergreifenden, jedoch niemals kitschigen Melodie. Wer hier keine Dauergänsehaut hatte, hat vermutlich vergessen, das Hörgerät einzuschalten.

Jenes brauchte das Publikum auch beim folgenden Ostinato, bei dem Chilly Gonzales den Saal zum souligen Mitsingen animiert, bis vor Eintracht selbiger vibriert. Am Ende bricht dann doch noch der verrückte Professor aus Chilly Gonzales heraus. Erst fordert er lautstark und mit Orchesterverstärkung „Take me to Broadway“, wobei sich einmal mehr zeigt, welche Arbeit im Vorfeld, aber auch welch gemeinsame Höchstleistung eine solche Verschmelzung von Soloperformer und Orchester ist. Erst lässt Gonzales das Orchester mitten im Stück für ihn übernehmen, um dann ein minutenlanges Solo anzustimmen, das Jules Buckley vergeblich in seiner Partitur zu suchen scheint. Erst nachdem er in den hohen Tonlagen getrillert und das Klavier mit der ganzen Hand bearbeitet hat, lässt Buckley das Orchester punktgenau in den Refrain einstimmen.

Schließlich teilt Chilly Gonzales den einzelnen Instrumentengruppen Samples aus „Another One Bites the Dust“, dem Knight Rider-Thema und Michael Jackson’s „Thriller“ zu, gibt noch einen Schuss von Britney Spear’s „Toxic“ hinein, lässt die Bläser im Rhythmus winken und treibt den Pauker in die bereits erwähnte Ekstase. Doch damit nicht genug. „You Snooze, You Loose“ rappend, sprintet er drei Mal die Ränge nach oben und lässt sich von der leicht schwerfälligen Menge wieder nach vorne tragen.

Am Ende springt die Halle unisono von den Plätzen und begleitet Chilly Gonzales und das BBC Symphony Orchester mit Bravo-Rufen hinter die Bühne. Drei Solo-Zugaben, unter anderem als „kopfloser“ Pianist – und ein Konzerterlebnis, wohl einer der Höhepunkte in der Karriere des Chilly Gonzales, ist Legende. Und zugleich Neuanfang. Mission erfüllt – zumindest für diesen Abend. In vielen Konzertsälen dieser Welt müsste dringend mal Staub gewischt werden.

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