Rezensionen rezensiert: Chilly Gonzales polarisiert in München und Karlsruhe

„Der vielleicht beste Entertainer, den es gibt“ – so bezeichnet sueddeutsche.de Chilly Gonzales am Tag nach seinem Konzert im Münchener Prinzregententheater. Als besseren „Klavierlehrer“ stellt ihn die schnarchlangweilige Tageszeitung meiner Heimatstadt Karlsruhe, Badische Neueste Nachrichten (BNN), nur zwei Tage später dar. Eigentlich hätte dies hier ein Konzertbericht werden sollen. Aber dann hat mich eben letztere Rezension herausgefordert, ein paar Gedanken niederzuschreiben.

Eigentlich dachte ich, diese meist oberflächlichen, negativen Rezensionen gehörten der Vergangenheit an. Als ich Chilly Gonzales das erste Mal live sah, 2008 in Frankfurt, da hielt er zwischen den Songs inne, drehte sich auf dem Klavierstuhl zum Publikum hin und öffnete eine Kladde. Dann begann er mit französischem Akzent vorzulesen, was den Schmähungen noch eine nette Note gab. Von großer Nase und noch größerem Ego war da beispielsweise die Rede. Aber auch von der Qualität seines Klavierspiels und seiner Songs. Als Bestandteil der Show konnte man über die Kritiken nur lachen, standen sie doch in krassem Gegensatz zum Erlebten. Mein Herz hatte er nach jenem Auftritt im Mousonturm musikalisch jedenfalls gewonnen. Wohin das führt, sieht man ja hier. Jedenfalls las ich über die Jahre gerechtfertigterweise immer weniger Schmähschriften und zunehmend Lobeshymnen über ihn. Dass ausgerechnet in meiner Heimatstadt mal wieder so ein BNN-Miesepeter im Publikum sitzen muss, hätte mir eigentlich schwanen können. Dank ihm wird jedoch ein gleichermaßen merkwürdiges wie peinliches Richtmaß in der Klassikszene offenbar (zu der Gonzales gar nicht gehören möchte): Gut ist scheinbar nur, was kompliziert und im zirzensischen Sinne möglichst artistisch ist.

Gleich eingangs der „Vorwurf“: Chilly Gonzales gaukele vor, seine Stücke seien „fingerbrechend“ – dabei KLINGEN sie nur so! „Seichte Klaviermusik“ sei das, noch dazu jeweils „sich selbst immer wieder ungeheuer ähnlich“. Daraus wird im weiteren Verlauf abgeleitet, er sei ein Blender, einer dem „mehr Schein als Sein“ auf die Brust geschrieben steht. Zuvor natürlich noch die arrogant hochgezogene Augenbraue und der leicht angewiderte Blick des Kulturrichters auf das Publikum: Jenes sei nämlich „fast völlig aus dem Häuschen gewesen“, was dieser scheinbar kaum fassen kann. Und schon sind wir bei der unsichtbaren Zweiklassengesellschaft in der Musik: Jene ist entweder populär, also für die Plebs oder elitär und sophistiziert und wird dementsprechend auch nur von gewissen Kreisen überhaupt erst verstanden. Dazwischen gibt es offenbar nichts. Dur und Moll. Major und Minor. Majorities und Mniorities. Schwarz und Weiß.

Hätte der Herr nur besser zugehört, was Chilly Gonzales zu Dur und Moll zu sagen hatte – natürlich auf „musiktheoretisch fragwürdigem Niveau“ – anstatt in seinen altväterlichen Bart zu grummeln und nebenbei seine Kompositionen auseinanderzunehmen: Er nutze „modal aufgebaute Themen, die er über ermüdend permanenten Begleitmustern der linken Hand abspult.“ Harmonisch verlasse er niemals das 19. Jahrhundert. Um letztere Bemerkung zu erklären, muss man etwas ausholen. Karlsruhe ist nicht gerade als Hochburg der Intellektualität bekannt. Schon gar nicht musikalisch. Aber einen kontemporären Komponisten von Weltrang gibt es: Wolfgang Rihm. Und an dem wird alles gemessen. Die Welt kann schließlich nicht irren. So kennt nahezu jedes Schulkind den Rihmschen Namen, wenn auch wohl kaum sein Werk. Bei den BNN jedoch ist er natürlich beliebt, und deshalb gilt hier der Leitsatz: Nur atonal ist Avantgarde. Da drängen sich ein paar Fragen auf. Darf Musik nicht gefallen? Darf sie nicht harmonisch sein? Darf sie sich nicht, auch wenn auf dem Klavier vorgetragen, Pop und altehrwürdigen Komponisten zugleich nähern? Ist Musik nur gut, wenn sie sich im experimentellen Rahmen bewegt? Geht es nicht zu einem großen Teil auch um das Erzeugen und Durchleben von Emotionen? Geben wir uns nicht deshalb seit Jahrhunderten immer wieder der Musik hin? Lassen wir doch den Kritiker der Süddeutschen Zeitung antworten, welchen ich bereits eingangs zitiert habe: „Der 40-Jährige verneint jede Hierarchie zwischen Hoch- und Popkultur – und legt damit vor allem die Intelligenz der Popkultur offen, als selbstbewusste, kreative Kraft.“

Weiter heißt es: „Wenn er dann ein Thema vorgestellt hat, beginnt in der Regel ein Zwischenspiel, das sein Heil in Komplementärryhthmen sucht, die er toccatenhaft in die Tastatur hämmert.“ Das klinge virtuos, sei es jedoch nicht. Womit wieder jener Snobismus durchschimmert, der bei manchen in den Ohren zu stecken scheint. Ein großartiges Beispiel dafür, dass Musik weder kompliziert noch „virtuos“ sein muss, um Millionen zu berühren, ist sicher die „Ode an die Freude“ aus dem Vierten Satz von Beethovens 9. Sinfonie, bei der die Melodie des Hauptthemas so simpel ist, dass selbst ich sie auf dem Klavier nachspielen kann. Schlicht und doch überwältigend. Was den Schreiber außerdem stört: Gonzales würde „jedes Ressentiment bedienen gegen Musik, die avancierter“ sei als die eigene und dabei krampfhaft versuchen, nicht den Spießer zu geben. Dabei würde man sich mit seiner Musik nur scheinbar „empört vom Mainstream abwenden“ – von dem man sich, so die Einsicht, doch gar nicht entfernen müsse. Hört, hört! Erst wird Chilly Gonzales dafür an den Pranger gestellt, dass seine Musik nicht elaboriert genug sei, nun folgt die großzügige Zuwendung zum Mainstream?

Jedenfalls wird hier deutlich, dass der Rezensent Chilly Gonzales schlichtweg nicht verstanden und sich im Vorfeld wohl kaum mit ihm beschäftigt hat. Gonzales will niemandem das Gefühl geben, sich vom Mainstream abwenden zu müssen, ganz im Gegenteil. Musikfaschismus ist ihm zuwider. Er sieht sich als Teil des Mainstream, als jemand, der das Klavier von alten Zwangsjacken befreit und in der Gegenwart rehabilitiert. Mit den Mitteln des Pop. Mit Rap. Mit Elektro. Mit Klassik. Mit Humor. An letzterem scheint es dem BNN-Menschen zu mangeln. Oder ist es vielleicht doch ein Scherz, wenn er seine Rezension, auf die beiden Live-Klavierstunden während der Show blickend, mit dem Satz schließt: „Ein guter Klavierlehrer, das ist nicht das Schlechteste, was man sein kann.“? Ein guter Klavierlehrer? Empfangen an die tausend Menschen Chilly Gonzales, als er für eine der Zugaben auf die Bühne zurückkehrt, deshalb jubelnd und stehend, weil sie einen guten Klavierlehrer gesehen haben? Zumal die (drücken wir es freundlich aus) meist wenig enthusiastischen Badener eine Begeisterung an den Tag legten, wie ich sie bei Konzerten in meiner Heimatstadt selten erlebt habe. Wahrscheinlich eher, weil sie den Münchnern zustimmen würden und sich einig sind, dass sie den wohl besten Entertainer unserer Zeit erlebt haben und ihm die gebührende Ehre erweisen. Oh, ich vergaß, wir sprechen ja doch nur vom Musikmob…

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