Zwei ausverkaufte Shows: London feiert den Pianobullen und seine Filetstücke

Wegen zweier Jungs im Roboterkostüm ist Chilly Gonzales derzeit in aller Munde. Leises Gemunkel gab es dementsprechend auch im Vorfeld der beiden Konzerte in der Londoner Cadogan Hall vergangene Woche, ob er seinen Song vom neuen Daft Punk-Album zumindest anspielen würde. Das tat er. Und wer ein Beethoven’sches Hirn hat, der konnte dabei sogar etwas hören, also quasi vor dem geistigen Ohr. Denn tatsächlich ließ er nur lautlos die Finger über die Tasten gleiten, was aber dank der gigantischen Video-Projektion, welche sich unter dem Dach der umgewidmeten Kirche auf voller Bühnenbreite erstreckte, von jedem Platz aus zu sehen war.

PianoVision heißt die Installation der Berliner Künstlerin Nina Rhode aka Ninja Pleasure. Sie zeigt Gonzales‘ imposante Hände von oben, grobkörnig und in Schwarz-Weiß, so, als würde die Musik zum Stummfilm selbst Gegenstand der Darstellung. Hauptdarsteller sind Gonzales‘ Finger. Mal tänzeln sie wie ein elegantes Spinnenballett über die Tasten, mal streicheln sie das Instrument sanft und scheinen es kaum zu berühren, um dann im nächsten Moment das Bild mit hammerartigen, kräftigen Bewegungen zum Vibrieren zu bringen. Wie bei White Keys. Als hätte es eines Beweises bedürft, wird der Zuschauer Zeuge, dass er dabei tatsächlich ausschließlich im weißen Bereich bleibt. Bei Minor Fantasy kommen auch die Obertasten wieder ins Spiel. Gonzales längster Finger ist übrigens etwa so lang wie eine schwarze Taste und jede Hand umfasst nahezu zwei Oktaven. Ohne PianoVision wären derlei Beobachtungen gar nicht erst möglich. Die Projektion demokratisiert quasi das Konzertgeschehen durch Luxus – nämlich beste Sicht von allen Plätzen. Denn normalerweise ist sonst bei Klavierkonzerten für die meisten Besucher der Oberkörper des Musikers das einzige, was sich bewegt, die Hände scheint der wuchtige Körper des Flügels zu verschlucken.

PianoVision kanalisiert die Konzentration und lässt fast vergessen, dass an den Händen noch ein Mann dranhängt. Durch die Choreographie der Finger ergibt sich eine ganz eigene Poesie, in der man sich nur allzu gern verliert. Aber Gonzales wäre nicht Gonzales, wenn er sich von einzelnen Körperteilen die Show stehlen ließe, nicht von drei Testikeln und auch nicht von zwei Händen. Und so scherzt und rappt er sich in die Herzen der Londoner, darunter Jarvis Cocker, Kimbra, Peter Serafinowicz und Akira The Don, die weder mit Spontanreaktionen noch Applaus geizen. Oder gebannt zuhören, als er etwa von den imaginären Grenzen spricht, die er sich beim Komponieren selbst zieht. „Keine Arpeggios!“ steht beispielsweise über dem barock perlenden „Evolving Doors“. Denn diese, also das nacheinander Abspielen der einzelnen Akkordtöne, seien eigentlich ein billiger Trick (welcher in Train of Thought reichlich Anwendung findet). Und auch Boogie Woogie sei zwar eine Fortentwicklung der Idee, aber auf dem Papier schöner als klanglich. „Schreib’s Dir hinter die Ohren, Jools Holland!“, poltert Gonzales in Richtung des BBC-Entertainers, in dessen Sendung er unverständlicherweise noch nicht eingeladen war. Auch hier, während der spaßig-edukativen Phasen der Show, ist PianoVision eine Bereicherung. Das Publikum wird noch mehr zur Meisterklasse und der ein oder andere hat wahrscheinlich tatsächlich durch visuelle Perzeption und nicht nur durch Zuhören etwas gelernt. Und wenn es nur der Clayderman’sche Grundsatz in der Praxis ist: „Teasing the note makes old ladies really wet!“ – ein Ratschlag, den Gonzales als Vorspiel zu Beans offenbart.

Nur zweimal wird die PianoVision unterbrochen und die Leinwand von zwei kurzen Filmsequenzen eingenommen. Nun liefert Gonzales wirklich den Soundtrack zu einem Stummfilm, etwa einem Comic. Er zeigt die Metamorphose eines Mannes, seine Metamorphose. Zu den Klängen eines sich furios steigernden Dot verwandelt sich der Flügel in einen wilden Stier und richtet sich gegen seinen Spieler. Dieser wehrt sich kurz, verschmilzt schließlich mit dem Instrument und stolziert als Teil dessen davon, als umgekehrter Minotaurus – oben Mensch, unten Pianobulle. Vielleicht sieht man hier einen Teil des Kampfes, den Gonzales mit sich selbst ausgefochten hat: Das Ergebnis ist Solo Piano, nach Jahren des Experimentierens die Rückbesinnung auf das Klavier und nur das Klavier. Und so stiebt der Pianotaurus nach einer mitreißenden Show, Songs aus Solo Piano I und II, The Unspeakable sowie zwei Zugaben von der Bühne und lässt eine stehende, jubelnde Menge in seiner Sternenstaubwolke zurück.

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