Journos Gone Gonzo

Die zahlreichen Videointerviews mit Chilly Gonzales, die durchs Netz schwirren, haben oft eines gemeinsam: einen wenig souveränen Interviewer. Das mag weniger daran liegen, das Chilly Gonzales als Person so einschüchternd wirkt, ganz im Gegenteil, sondern dass sie vor seiner zuweilen temperament- und scheinbar experimentierfreudigen Bühnenpersönlichkeit ehrfurchtsvoll erstarren. Oder sich davon angestachelt fühlen, die Grenzen des journalistisch Möglichen auszutesten. Dabei lassen sie sich jedoch von der Perfektion hinter der Illusion täuschen. Denn tatsächlich ist bei Chilly Gonzales jede Show orchestriert und bis ins Detail geplant. Auch wenn eines seiner zahlreichen Talente sicher Schlagfertigkeit und Offenheit sind, so geschieht Improvisation und Spontanität bei einer gut vorbereiteten Show innerhalb zuvor abgesteckter Grenzen. Illusion entsteht niemals aus dem Nichts, das weiß man spätestens seit David Copperfield (gemeint ist vor allem der mit der „magischen“ Frisur). Auch wenn es scheint, als durchquere jener die Chinesische Mauer mit ein bisschen Theatralik und Abrakadabra, steckt dahinter viel Planung und Vorbereitung. Das scheinen einige Journalisten bei ihren Vorbereitungen jedoch zu vergessen und wähnen sich als Teil einer Inszenierung, die abseits der Bühne so nicht stattfindet. Dass Chilly Gonzales sich deshalb häufiger einfach mal über das Klavier ausdrücken und improvisierend Fragen beantworten soll, gehört noch zu den harmloseren Erscheinungen. In einer deutschen Tageszeitung (Frankfurter Rundschau) war unlängst tatsächlich zu lesen, ob er auch mit seinem Geschlechtsteil Klavier spiele („Sie machen Musik mit dem Penis?“). Das könnte durchaus ein verzweifelter Versuch von grenzenloser Witzigkeit gewesen sein oder getrieben von der Hoffnung, eine plakative Antwort zu erhalten, spätestens beim Redigieren hätte jene erregte Frage jedoch den Weg in den Druck nicht schaffen dürfen. Coitus interruptus sozusagen. Und so ist es nur allzu verständlich, dass Chilly Gonzales seither bei der Frage, mit welchem Körperteil er denn noch so musizieren könne, sofort auf das nächstbeste Piano springt und jenes mit den Füßen traktiert.

 

Manch ein Interviewer hat auf der Journalistenschule zu gut aufgepasst und startet mit einer offenen Frage. Schließlich will man ja die Zunge lockern. Als Antwort auf „What about Jazz?“ – natürlich hätte er hierzu wieder das Klavier sprechen lassen sollen – entlockt der Angestellte einer öffentlich-rechtlichen Anstalt (1live, WDR) Chilly Gonzales kein atonales Freejazzgeklimper, aber einen Blick, der alles sagt – auch ganz ohne Noten oder Worte. Im gleichen Interview vergisst der Herr nicht nur immer wieder, das Gesagte seinen Zuschauern wie angekündigt ins Deutsche zu übersetzen, er adressiert sie meist auf Englisch. Dazwischen gelingt es ihm, mit ungelenken Anspielungen für alle Beteiligten unangenehme Momente zu erzeugen, etwa mit der sinngemäßen Frage, ob sich Seniorenrap überhaupt gehöre. Am Ende will man eigentlich nur noch durch den Bildschirm greifen, dem Kerl über den Kopf streichen und ihm erklären, dass sein Interview gar nicht so crazy und innovativ war, wie er glaubt, sondern einfach nur schlecht. Soweit ist es mit der Technik leider noch nicht und so muss man auch noch mit ansehen, wie der Interviewer sich stolz via Twitter und Facebook für diesen Jahrmarkt der Peinlichkeiten brüstet und vermarktet.

 

Weniger selbstsicher, aber nicht minder gehaltlos geben sich gleich zwei Damen eines renommierten deutschen Radiosenders (Deutschlandradio). Auch hier soll wieder das Tasteninstrument als Antwortgeber herhalten (gähn). Auf die Frage, wie wohl die WG mit Peaches und Feist in Berlin klang, streikt Gonzales folgerichtig und wirkt für einen Moment perplex. Hier und hier.

 

Was viele Journalisten zu vergessen scheinen: Ein interessantes Interview entsteht aus einem interessanten Gespräch, basierend auf gründlicher Vorbereitung. Es geht nicht um das Abhaken einzelner Fragen oder darum, das Rad neu zu erfinden, sondern darum, eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich das Gegenüber wohl fühlt und sich menschlich bis zu einem gewissen Grad öffnet – und das ungeachtet dessen, ob man einen Künstler oder die Vorsitzende des lokalen Hausfrauenbundes vor sich hat. Eine Rückbesinnung zu alten journalistischen Tugenden stünde manchen Journalisten besser als hohle Hipsterattitüde. Hier ist weniger tatsächlich mehr und manchmal sind die einfachen Fragen die besten. Albernheit erzeugt jedoch nur Unbehaglichkeit und ganz sicher keine außergewöhnlichen Antworten.

 

Ähnlich beliebt beim „Thema“ Chilly Gonzales sind immerwährende Vergleiche. Am meisten bemüht wurde bisher wohl Eric Satie. An sich ist daran nichts auszusetzen – abgesehen davon, dass gutes Schreiben oft bedeutet, eigene Worte für das scheinbar Unbeschreibliche zu finden. Und dass Chilly Gonzales „eigentlich Jason Charles Beck“ heißt, ist die Tinte nicht wert. Nur wenige werden ihn als solchen aus Kindertagen kennen und Referenzen herstellen können. Chilly Gonzales ist Chilly Gonzales. Und das unabhängig von der Frequenz der Frage, wie viel Chilly in Jason und Jason in Chilly steckt – als gäbe es einen Bühnen-Jekyll und Privat-Hyde. Oder umgekehrt. Wem nicht reicht, was er von Chilly Gonzales hört, sieht oder liest, der sollte sich auf Britney Spears konzentrieren, bei der das Privatleben mittlerweile mehr bietet als die Musik.

 

Natürlich gibt es nicht nur Negativbeispiele, sondern immer noch eine ansehnliche Zahl sehr guter Journalisten, welche die Kunst des Interviews (an dieser Stelle sei auch auf eine Mini-Videoserie von Chilly Gonzales namens The Art of the Interview verwiesen…) beherrschen. Jene Glanzbeispiele findet ihr natürlich – auf sologonzales.com.

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