Als Zeitgenosse Händels oder Mozarts blieben höchstens drei Möglichkeiten, wenn einem der Sinn nach Musik stand: Rezeption im Konzertsaal, eigenes Musizieren oder man hatte das Glück adliger Geburt und konnte sie als Bestandteil höfischen Lebens genießen. Mittlerweile ist Musik glücklicherweise stets verfüg- und reproduzierbar, und doch fühlte es sich am Samstag, 29. Dezember, fast ein bisschen so an, als wären Datenträger noch gar nicht erfunden. Denn Chilly Gonzales bot so viel neue und vor allem leider bisher unveröffentlichte Stücke dar, dass der Genuss zwar groß, aber das Bewusstsein um die Vergänglich- und Einmaligkeit allgegenwärtig war. Der Faustsche Vers: „Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: Verweile doch, du bist so schön!“ hätte dem finalen Konzert im Jahr 2012 als Motto dienen können. Vielleicht war es jedoch auch der Fingerzeig in die Zukunft und in Richtung „mehr Orchester“?
Schon vor Beginn des Konzerts lässt sich erahnen, dass es sich um einen ganz besonderen Abend handelt. Zahlreiche Kartensucher recken dem Ankommenden vor der einschüchternden Kulisse des nächtlichen Kölner Doms Pappschilder entgegen, und die Hand krampft sich unweigerlich noch fester um das eigene Ticket. Tatsächlich ist die Kölner Philharmonie bis unters Dach ausverkauft. Zum einen hatte Gonzales schon vor genau einem Jahr das Publikum am gleichen Ort in seinen Bann gezogen, zum anderen ist er mittlerweile Wahl-Kölner – ein Heimspiel also, noch dazu mit kammerorchestraler Verstärkung. Dass er sich in Köln wohl fühlt, daraus macht er keinen Hehl. Dementsprechend verwöhnt er seine Mitbürger an jenem Abend. Zunächst schmaust er sich mit wunderschönen Versionen von „Kenaston“ oder „Minor Fantasy“ ins Ohr und erklärt dann anhand von „Train of Thought“ die perlende Version des Akkords, das Arpeggio. Schließlich laufen die Co-Stars des Abends ein: „Strings Deluxe“ aus Hamburg, mit denen er schon beim von Arte aufgezeichneten und live übertragenen Konzert im Pariser Palais de Tokyo gespielt hat, und die später noch durch „Friends“ vervollständigt werden: Blas-Instrumentalisten bestehend aus Querflöte, Klarinette, Waldhorn und Posaune sowie Joe Flory (Amateur Best) am Schlagzeug.
Wer glaubt, so viele Mitspieler auf der Bühne verträgt ein Alleinunterhalter wie Chilly Gonzales schlecht, irrt. Tatsächlich verleiht die Multiinstrumentalisierung den Stücken zusätzliche Tiefe. Denn viele von Gonzales Stücken stecken voller Moll, Melancholie sowie slawischer Herzschwere und vor allem die Streicher drücken nochmal zusätzlich auf die Tränendrüse. So auch bei „Goodbye, Hero“, einem Stück, das Gonzales gleich nach seinem Umzug in Köln geschrieben hat und das er an diesem Abend zum ersten Mal vorträgt. Obwohl in optimistischer und froher Grundstimmung geschrieben, handle das traurige Lied nicht von Regen oder ungenießbarem Essen in Köln, sondern sei vielmehr als „Funeral Song“, als Requiem auf Paris, seinem vorherigen Wohnort, zu verstehen. Die erste Geige spielt hier wirklich die Violine, so traurig klagt Adam Zolynskis Instrument über die fast zurückhaltende Klaviermelodie.
Und auch ein kleines Klarinettenkonzert ist zwar als Ode an die (in diesem Fall Bass-) Klarinette gedacht, für die Gonzales nach eigener Aussage und auch gemäß eines Tweets eine gewisse Schwäche hegt, es sind jedoch die Streicher, welche hier die eigentliche Hauptrolle spielen, wie auch bei einer berührenden Version von „Armellodie“ vom ersten Solo Piano Album. Jenes Stück ein weiteres Beispiel dafür, dass Chilly Gonzales selbst Dur zu „vermollen“ vermag (höre auch „Chilly in F Major“ oder „C Major“).
Dazwischen wird es aber auch immer wieder wie gewohnt etwas lauter. Etwa bei „Supervillain Music“ oder wenn Chilly Gonzales sein vor Bach’schen Verzierungen strotzendes „Evolving Doors“ mit „Take Me To Broadway“ mixt.
Ein Höhepunkt ist jedoch das „Kammermusik Concerto“, welches Gonzales als Premiere angekündigt hatte. Dabei ist es eher die Premiere einer Variation. Denn jene zwei Sätze, die er in Köln mit Kammerorchester darbietet, waren in ähnlicher Form Bestandteile des mit dem BBC Symphony Orchestra im herbstlichen London vorgetragenen Piano Concerto No. 1 in vier Sätzen.
Eine Sarabande sei der erste Satz, gefolgt von einem jüdischen Tanz. Erstere hat ihren Ursprung im Barock als höfischer Tanz, zweiterer ist geprägt von einer klezmerartigen Tonleiter, welche in meinem Kopf als „Socalled’sche Skala“ abgelegt ist (Gonzales spielte während seine Guinness Weltrekords eine Version von Socalled’s „You Are Never Alone“, welche für kurze Sequenzen mit Satz 2 identisch ist). Jedoch sollte das Stück nicht nur ein kultureller Reigen, sondern auch ein Wettkampf zwischen Klavier und Orchester sein – zumindest scheinbar. Denn übergeleitet hat Gonzales, indem er die Unzulänglichkeiten des „Schwächlings Klavier“ anhand einzelner Instrumente offenbart hatte. So könne das Klavier beispielsweise Töne nicht binden, eine angeschlagene Note verklinge verglichen etwa mit der Violine rasch. Um einen ähnlichen Effekt zu imitieren, müsse das Klavier beispielsweise albern Trillern. Oder ihm fehle die Möglichkeit, Töne durch den Atem zu modulieren. Dafür kann das Klavier etwa mehrere Stimmen mit verschiedenen Rhythmen widergeben. Zur Veranschaulichung lässt er einzelne Instrumente Melodien spielen. Als der Posaunist „Chariots of Fire“ intoniert, einen der Songs, den Gonzales gern von Dur in Moll transponiert, klingt das nicht nur simpel, sondern reizt auch seine mitunter scharfe Zunge: Der Musiker träume wohl schon von 50.000 verkauften „Solo Trombone“-Alben.
Als das Werk schließlich erklingt, stellt sich schnell heraus, dass es hier keineswegs um Wettstreit nach Gonzo-Manier geht, sondern um meisterliches und harmonisches Zusammenspiel. Wie auch schon den ganzen Abend. Wer Gonzales erlebt, wie er mit dem Orchester kleinste Signale austauscht und den Vortrag zu genießen scheint, dem wird eines klar: Keiner wird öfter verkannt und falsch dargestellt wie Chilly Gonzales. Weil sein Auftritt immer selbstbewusst, sein Humor nicht gerade leise und seine frühe europäische Vergangenheit von gespieltem und öffentlichkeitswirksamem Größenwahn geprägt ist, heißt es oft er sei „ein Egomane“, also jemand der sich stets krankhaft selbst in den Mittelpunkt stellt. Verfolgt man seinen Werdegang und auch sein mediales Auftreten, so offenbart sich eigentlich eine noble und erst auf den zweiten Blick bemerkbare Bescheidenheit. Er unterstützt Talente, tritt hinter großen Erfolgen, an denen er maßgeblich beteiligt war, zurück (z.B. Feist), scheint für seine musikalische und Freundes-Familie stets im Hintergrund zu wirken und betont, dass bei der Musik die Freude im Vordergrund stehen sollte – die im „gemeinsamen Musizieren“ liege. Letzteres scheint im Hause Beck einen wichtigen Stellenwert gehabt zu haben: Da hilft der Wagner versessene Großvater dem kleinen Gonzo beim Klaviererkunden und der große Bruder macht gemeinsam mit dem kleinen Musik. Dazu kommt eine Publikumsliebe, welche die eigenen Bedürfnisse manchmal scheinbar in den Hintergrund rückt.
Selbstbewusstsein heißt, sich seiner Stärken bewusst zu sein. Noch mehr jedoch, auch seine Schwächen zu kennen. Zu Unrecht hat Selbstbewusstsein in Europa häufig einen negativen Beiklang oder wird gar als Bedrohung empfunden. Der Gonzales unterstellte Größenwahn kreist eigentlich stets nur um die Quelle seines Könnens, das Klavier. Stößt er an seine Grenzen, holt er Experten ins Boot. Etwa wieder den großen Bruder, der sich als Soundtrack-Komponist in Hollywood einen Namen gemacht hat und gewiss über einen kleinen Vorsprung verfügt, was Partituren für „orchestralen Rap“ angeht („The Unspeakable“). Oder den Elektro-Senkrechtstarter Alex Ridha (Boys Noize), der „Ivory Tower“ produzierte. Der Mann, der seine Alben „Solo Piano“ nennt und bislang meist allein auf der Bühne stand, ist eigentlich ein leidenschaftlicher Teamplayer, kein einsamer Wolf. Und das schon immer. Logisch also, dass er sich nun der Orchestermusik verschrieben hat. Die Kölner Philharmonie sieht zwar aus, wie die moderne Interpretation eines Amphitheaters, also der schaurige Schauplatz von Gladiatorengemetzel. Sie ist trotzdem eher Schauplatz und Ausgangsort für die wörtliche und etymologische Liebe zur Harmonie. Die vorzügliche Akustik tut hierzu ihr übriges, die beeindruckende Halle schart das Publikum um die Künstler und sorgt trotz der Größe für eine gewisse Intimität. Am Ende zeigen 2.000 Daumen nach oben und das Publikum springt nach der Zugabe – unter anderem „Cello Moment“, eine Konversation zwischen Cello und Klavier – von den Sitzen.
Und der nicht nur im übertragenen Sinn, sondern auch körperlich große Chilly Gonzales steht inmitten seiner Musiker, hält einen zarten, rosa Blumenstrauß vor dem schwarzen Morgenmantel und sieht so aus, als wolle er den Augenblick ebenfalls zum Verweilen bewegen. Oder ihn zumindest reproduzieren – was er laut Tourplaan in den Konzertsälen New Yorks, Münchens und Berlins ganz sicher demnächst tun wird.